Die Geschichte einer Familie im Wandel der Zeit. Besser kann man die Ereignisse in einem Land dem Leser gar nicht näher bringen. Irina Scherbakowa schreibt über ihre Familie in den politischen Wirren der letzten 150 Jahre. Ein beeindruckendes Zeitzeugnis.
Irina Scherbakowa beginnt ihre Familiengeschichte bei der Urgroßmutter mütterlicherseits im 19. Jahrhundert. Von den schwierigen Zeiten für die einfache Bevölkerung, insbesondere der Juden, berichtet sie. Und von der politischen Lage, die zu jeder Zeit Einfluss auf die Familie nahm. Wenn auch Irinas Vorfahren in vielen Situationen Glück hatten: Keine Verhaftung und keine Verbannung, kein Gefängnis oder gar Gulag.
Von Starodub, wo die Urgroßmutter lebte, gelangte die Familie schließlich nach Moskau. Sie erlebte den Sturz des Zaren, den Großen Krieg, die Reformen durch Lenin und das Joch unter Stalin. Trotz immerwährender Ungewissheit und Furcht vor einer Verhaftung, engagierten sich Irinas Eltern für die freie Meinungsäußerung.
Während die Mutter als Lehrerin arbeitete und ihren Schülern nicht nur die von oben vorbestimmte Literatur nahe brachte, setzte sich der Vater dafür ein, dass überhaupt Menschen in der Zeitung zu Wort kamen, die der Staat eigentlich nicht hören wollte.
Überhaupt spielte die Literatur und Bücher im Hause Scherbakowa eine große Rolle. Schon früh las Irina. Kinderbücher, Klassiker, aber auch Bücher, die unter der Hand ins Haus gelangten. Gerade Mitte des 20. Jahrhunderts Bücher über Erlebnisse in den berüchtigten Gulags. Während an allem anderen Mangel herrschte, blühte Irinas Geist unter all den literarischen Geschichten auf.
Schnörkellose Zeit- und Familiengeschichte
Mir hat das Buch sehr gut gefallen. Es hat für mich genau die richtige Mischung aus Zeitgeschichte und Familiengeschichte. Überhaupt bin ich der Meinung, Zeitgeschichte sollte immer in Verbindung mit einer persönlichen Geschichte verknüpft sein, weil es so viel interessanter ist und man sich mehr merkt.
Wobei ich gestehe, einen Test über die Geschichte Russlands, vor allem die politischen Vorgänge, würde ich vermutlich nach wie vor nicht bestehen.
Nichtsdestotrotz finde ich die Familiengeschichte sehr gut geschrieben. Verständlich und ohne große Schnörkel schildert Irina Scherbakowa die Ereignisse und ihre Erinnerungen. Die gelegentlichen Abschweifungen zu kleinen Anekdoten finde ich sehr liebenswert. Wie allerdings in allen Büchern über Russland hatte ich immer mal wieder Schwierigkeiten mit den Namen. Eine Person mal mit dem Vornamen, dann wieder mit dem Nachnamen zu bezeichnen finde ich nach wie vor verwirrend.
Alles in allem habe ich mich gut unterhalten gefühlt, hatte den Eindruck, dass ich etwas lerne und habe die Lektüre mit einem positiven Gefühl beendet. Obwohl ich es mir wünsche, glaube ich nicht, dass das Buch für jeden was ist. Aber ich empfehle es auf jeden Fall allen, die ähnlich wie ich für Zeitgeschichte und persönliche Erlebnisse/Erinnerungen interessieren.
Mehr Bücher zu Zeit- und Familiengeschichte:
Owen Matthews: Winterkinder
Charlotte Krüger: Mein Großvater, der Fälscher
Autorenporträt
Irina Scherbakowa, geboren 1949 in Moskau, ist Historikerin, Publizistin und Übersetzerin. Sie war als Redakteurin unter anderem bei der renommierten Literaturnaja Gaseta tätig. Sie arbeitet bei der Moskauer Gesellschaft „Memorial“, die sich für die Aufklärung der sowjetischen Repressionen und den Schutz der Menschenrechte in Russland einsetzt. Irina Scherbakowa war Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin und erhielt 1994 den Katholischen Journalistenpreis. Sie lebt in Moskau.
Buchinfo
„Die Hände meines Vaters. Eine russische Familiengeschichte“ von Irina Scherbakowa, erschienen November2017 bei Droemer
Hardcover: 416 Seiten, € 22,99, ISBN: 978-3-426-27710-2
eBook: 416 Seiten, € 219,99, ISBN: 978-3-426-44223-4
Quellen
Bild/Autorenporträt: www.droemer-knaur.de / Text (außer Autorenporträt): Susanne