Zwei Jahre nach dem großen Krieg will die britische Regierung all den trauernden Männern und Frauen die Möglichkeit zum Abschied geben. Von einem der französischen Schlachtfelder wird ein Soldatenleichnam exhumiert. Mit allen erdenklichen Ehren wird er von der Front nach London verbracht: Der berühmte unbekannte Soldat. Drei Frauen stehen stellvertretend für die vielen Tausend Mütter, Töchter, Ehefrauen, Verlobten, Schwestern und Freundinnen, die im Krieg einen Menschen verloren haben.
Mein Lieblingssatz: „Oben angekommen, bleiben sie stehen, um Luft zu holen, und schwenken mit den Taschenlampen über die Szenerie, die sich vor ihnen erstreckt: riesige, rostende Rollen Stacheldraht, acht, zehn Meter dick, die sich wie das gebogene Skelett einer urzeitlichen Schlange in beide Richtungen erstrecken, so weit das Auge reicht.“
Herbst 1920: Ein Colonel, ein Sergant und ein einfacher Soldat graben auf einem der Schlachtfelder in Frankreich eine Soldatenleiche aus. Die Identität ist unbekannt und kann auch nicht mehr festgestellt werden. Sie verbringen die menschlichen Überreste in eine Kaserne nahe Agincourt und dazu noch einige Säcke voll französischer Erde. Von dort tritt sie eine feierliche Reise von Frankreich bis nach London in die Westminster Abbey an. Der unbekannte Soldat ist geboren.
Die britische Regierung will ein Zeichen setzen. Mit allen Ehren soll der unbekannte Soldat in die britische Hauptstadt verbracht und dort in französischer Erde beigesetzt werden. Damit all die trauernden Frauen und Männer Abschied nehmen können. Irgendwie. Jeder soll die Möglichkeit haben in ihm seinen Angehörigen zu sehen und den Verlustschmerz zu lindern. Vor allem jene, die im Unklaren sind über das Schicksal ihrer Männer, Väter, Söhne, Brüder und Freunde. Die nicht wissen, ob er begraben wurde und wenn ja, wo.
Drei Frauen
Ada Hart kommt über den Verlust ihres Sohnes Michael nicht hinweg. Seit ihr mitgeteilt wurde, dass er an der Front starb, wartet sie sehnsüchtig auf den zweiten Brief, der ihr mehr Erklärung bietet zu den Todesumständen. Und der ihr sagt, wo er begraben liegt. Aber vielleicht lebt Michael ja noch!? Immer wieder sieht sie ihren Sohn auf der Straße, läuft ihm hinterher. Immer wieder wird sie enttäuscht. Ihre Ehe liegt darob in Scherben.
Hettie muss dem stillen Leiden ihres Bruders Fred zusehen. Seit seiner Rückkehr sitzt er entweder ruhig im alten Lehnsessel oder durchstreift abwesend London. Er spricht kaum, schon gar nicht über seine Erlebnisse in Frankreich. Die 19-jährige arbeitet als Tanzlehrerin im angesagten Palais. Die Hälfte ihres Lohnes gibt sie zu Hause ab, seit Fred zurück gekehrt ist. Er ist nicht in der Lage zu arbeiten. Und Hettie kann ihm kaum helfen.
Evelyn Montfort müsste nicht arbeiten. Dennoch sitzt sie täglich in der Pensionsstelle und nimmt die Beschwerden der Veteranen auf. Ein trostloser Job. Genauso trostlos wie Evelyn und ihr Leben. Seit der große Krieg ihr den Geliebten nahm, ist sie bitter und innerlich kalt. Sie lässt niemanden an sich heran. Nicht einmal ihr Bruder Edward kann ihr helfen, wo doch gerade er verstehen müsste. Denn auch er hat in Frankreich gekämpft.
Für Evelyn kommt ein Stein ins Rollen, als ein Mann vor ihr sitzt, der ausgerechnet nach Captain Montfort, ihren Bruder Edward, sucht. Nach einigem Zögern, will sie wissen, warum. Was sie hört gefällt ihr nicht. Und ist doch so typisch für die Grausamkeit des Krieges.
Die drei Frauen kennen sich nicht. Jede von ihnen sieht dem Großereignis um den unbekannten Soldaten anders entgegen. Und doch wird es sie auf die eine oder andere Weise miteinander verbinden.
Eine stille Lektüre, schlicht und schön
Der Roman von Anna Hope ist schlicht, ergreifend und schön. Es fällt nicht schwer sich in jede der verschiedenen Persönlichkeiten hinein zu versetzen. Man spürt Adas Schmerzen, Evelyns bittere Trauer und Hetties Ungeduld auf das Leben nach dem Krieg.
Anna Hope beweist ein gutes Gespür für die Gefühle der Menschen. Ihre Schilderung all der verschiedenen Personen, die auf seiner Reise mit dem unbekannten Soldaten in Berührung kommen und deren Empfindungen, machen das Buch besonders.
Es ist eine stille Lektüre über den sogenannten Großen Krieg und seine Nachwirkungen, die heute beinahe vergessen sind. Ich kann es nur empfehlen und hoffe auf weitere Romane aus Anna Hopes Feder.
Autorenporträt
Anna Hope ist Schauspielerin. Sie hat in Oxford und am Birkbeck College englische Literatur und an der Royal Academy of Dramatic Art Schauspiel studiert. Nach diversen Kurzgeschichten und Theaterstücken ist „Abgesang“ ihr erster Roman. Anna Hope lebt in London.
Buchinfo
„Abgesang“ von Anna Hope, erschienen im März 2014 bei Kindler, Hardcover, 416 Seiten, € 19,95, ISBN 978-3-463-40322-9
eBook: € 16,99, ISBN 978-3-644-31011-7
Quellen
Bild: www.rowohlt.de / Text: Susanne