„Meine Geschichte der deutschen Literatur“ ist eine Zusammenstellung verschiedenster Essays, von Porträts, Rezensionen und auch Ansprachen. Allesamt vom berühmt-berüchtigten Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki. Herausgegeben von Thomas Anz, dem Reich-Ranicki schon zu Lebzeiten einen Teil seines Nachlasses und die Verantwortung dafür über seinen Tod hinaus anvertraut hat.
Marcel Reich-Ranicki war der bedeutendste Literaturkritiker unserer Zeit. Sein Nachlassverwalter Thomas Anz hat nun einen Teil der Essays Reich-Ranickis zu einem Buch zusammengefasst: „Meine Geschichte der deutschen Literatur. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart.“
Und so ist das Buch auch aufgebaut. Es ist in zeitliche Abschnitte unterteilt: „Vom Mittelalter bis zur Romantik“, „Vormärz und Realismus“, „Literarische Moderne bis 1945“ und „Von der Nachkriegsliteratur bis zur Gegenwart“.
In jeder Epoche finden sich Porträts, Rezensionen und auch Reden zu den verschiedensten Dichtern Deutschlands. Die einen mehr, die anderen weniger geläufig. Große und bekannte Namen wie Walther von der Vogelweide, Lessing, Goethe, Schiller, Kafka, Brecht, Hesse und Kästner finden sich da. Aktuelle Namen wie Ingeborg Bachmann, Günter Grass, Wolf Biermann und Patrick Süskind. Aber auch weitgehend unbekannte wie Ludwig Börne, Alfred Kerr, Alfred Döblin, Erich Fried oder Hermann Burger. Um nur einige zu nennen.
Mal hatte Reich-Ranicki mehr, mal weniger zum jeweiligen Dichter oder Philosophen zu sagen. Mal hat er porträtiert, das ganze Werk beleuchtet und mal nur ein einziges Gedicht. Und hin und wieder gibt es Dichter wie Erich Kästner oder Goethe, zu denen gleich mehrere Essays enthalten sind.
„In Dankbarkeit und in Bewunderung“
Um es mal mit den Worten des großen Literaturkritikers selbst zu sagen: Nein, ich liebe ihn nicht, diesen Marcel Reich-Ranicki. Dies sagte er dereinst über Friedrich Hölderlin. Und dennoch hat er sich auch vor Hölderlins „Dichtung in Dankbarkeit und in Bewunderung“ verneigt. So ähnlich mache ich das auch.
Das Buch und damit Marcel Reich-Ranicki beeindruckt mit dem umfassenden Wissen um die deutsche Literatur. Der geneigte Leser kann so schrecklich viel lernen! Es macht neugierig und wissbegierig auf all die Dichter, die da porträtiert und erwähnt werden. Und unabhängig davon wie kritisch sich Reich-Ranicki zum betreffenden Dichter oder dessen Werk äußert, es ist auf jeder Seite diese unbedingte Leidenschaft, diese große Liebe zum geschriebenen Wort zu spüren. Sie springt einen förmlich von den Seiten entgegen. Eigentlich ist es also eine riesengroße Liebesgeschichte der deutschen Literatur.
Es ist beileibe kein einfaches Buch, keine leichte Kost. Es braucht Interesse und Konzentration, um es zu lesen. Aber das Schöne ist, man muss es nicht in einem Rutsch lesen. Dank der Aufteilung der zumeist nicht allzu langen und in sich abgeschlossenen Texte kann man das Buch auch gut mal beiseitelegen und nach einigen Tagen wieder danach greifen. Ohne Angst zu haben, man hätte den Faden verloren.
Der Beginn einer fantastischen Reise
Ich bewundere Marcel Reich-Ranicki für seine ehrliche und leidenschaftliche Art in Sachen Literatur. Aber ich gehe nicht immer mit ihm konform. Dieses Auseinander-pflücken von Gedichten und Texten ist nicht meins. Schon in der Schule fand ich Gedichtanalyse be….scheiden – und ich mochte Deutsch wirklich. Für mich wirkt ein Gedicht nur als Ganzes, als Einheit. Reich-Ranicki reißt es auseinander wie ein hungriger Löwe die erbeutete Gazelle. Das kann man mögen, muss man aber nicht.
Klar, dass „Meine Geschichte der deutschen Literatur“ kein Buch für jeden ist. Interesse für Literatur muss da sein und natürlich muss man sich auf Reich-Ranicki einlassen. Wer das tut, dem werden sich literarische Welten eröffnen, die von einem Dichter und/oder Gedicht zum anderen führen. Der Beginn einer fantastischen Reise.
Autorenporträt
Marcel Reich-Ranicki, geboren 1920 in Polen, lebte von 1929 bis 1938 in Berlin. Nach der Deportation durch die Nazis überlebte er nur knapp das Warschauer Ghetto und kehrte nach dem Krieg nach Deutschland zurück, wo er seine Karriere als Literaturkritiker begann: Er war von 1960 bis 1973 Literaturkritiker der „Zeit“ und leitete von 1973 bis 1988 den Literaturteil der „FAZ“, wo er noch bis zu seinem Tod als Kritiker und Redakteur der „Frankfurter Anthologie“ tätig war. Von 1988 bis 2001 leitete er „Das Literarische Quartett“ des ZDF. Nahezu alle Deutschen kennen Marcel Reich-Ranicki – er war „der“ Kritiker und enfant terrible der Medienlandschaft. In seinem geschriebenen wie gesprochenen Wort spürte man jederzeit die Leidenschaft und Konsequenz, mit der er sich für Literatur einsetzte. Seine 1999 bei der DVA erschienene Autobiographie „Mein Leben“ wurde zum Millionenbestseller. Er erhielt zahlreiche literarische und akademische Auszeichnungen. Marcel Reich-Ranicki verstarb 2013 in Frankfurt am Main.
Herausgeber
Thomas Anz, Jahrgang 1948, ist Professor für Neuere Deutsche Literatur in Marburg und verfasste neben wissenschaftlichen Arbeiten zahlreiche Literaturkritiken und Essays für Zeitung und Rundfunk. Seit 1999 ist er Herausgeber der ersten Zeitschrift für Literaturkritik im Internet. Er veröffentlichte u.a. „Franz Kafka“ (1989), „Literatur und Lust“ (1998), „Literatur des Expressionismus“ (2002), „Handbuch Literaturwissenschaft“ (2007) sowie „Marcel Reich-Ranicki“ (2004). 2010 gründete er die „Arbeitsstelle Marcel Reich-Ranicki für Literaturkritik in Deutschland“ an der Universität Marburg.
Buchinfo
„Meine Geschichte der deutschen Literatur. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart“ von Marcel Reich-Ranicki, Thomas Anz (Hrsg.), erschienen September 2014 bei DVA Belletristik
Hardcover: Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 576 Seiten, 3 s/w Abbildungen, € 26,99, ISBN: 978-3-421-04663-5
eBook: Format: epub, 3 s/w Abbildungen, € 21,99, ISBN: 978-3-641-14177-6
Quellen
Bild: www.randomhouse.de / Text (außer Autorenporträt): Susanne
Pingback: Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben | Wortgestalten