Bei dem Wort Zwangsstörung denken viele Menschen zunächst einmal wohl an Waschzwang. Das ist grundsätzlich nicht falsch, aber eben auch nicht die ganze Wahrheit. Zwangsstörungen umfassen ein unglaublich weites Spektrum. Sie setzen sich oft aus einem Zwangsgedanken und einer damit verbundenen Zwangshandlung zusammen. David Adam leidet unter solchen Zwangsgedanken und –handlungen.
Jeder Mensch hat sogenannte intrusive Gedanken. Das sind ungewollte Gedanken, die sich aufdrängen. Oft sind es absurde Überlegungen, die der eigenen Persönlichkeit zuwiderlaufen. Zum Beispiel der Gedanke das Auto gegen einen Brückenpfeiler zu lenken, dem Vorgesetzten/der Schwiegermutter/der Oma nebenan eine zu kleben. Oftmals sind es destruktive Gedanken. Bei Eltern sind Gedanken an Gewalttaten gegenüber den Kindern nicht selten.
Im Grunde sind diese intrusiven Gedanken völlig normal und nicht weiter schlimm. Entscheidend ist der Umgang mit ihnen. Adam beschreibt das auf Seite 248 so:
„Nehmen wir z.B. den intrusiven Gedanken, eine alte Dame auf einer Straße niederzustechen. Wenn jemand diesen Gedanken als absonderliche Idee abtut, die keine Beachtung verdient, wird er höchstwahrscheinlich nicht zu einer psychischen Erkrankung führen. Bekämpft er den Gedanken, um ihn zu vertreiben, könnte er … eine Zwangsstörung entwickeln. Und wenn er den Gedanken einem anderen Menschen oder dem Teufel oder der CIA zuschreibt, dann könnte das Ergebnis auch eine Schizophrenie sein.“
David Adam selbst lebt seit Jahrzehnten mit einem Zwangsgedanken und den dazugehörigen Zwangshandlungen. Er hat seit seiner Jugend die fixe Idee, dass er sich mit HIV infizieren könnte. Daher untersucht er immer wieder akribisch Türklinken, Papiertücher und Gegenstände an denen er sich verletzt hat. Er weiß, dass seine Befürchtungen absurd sind, dass es so gut wie unmöglich ist, sich auf diese Art und Weise mit HIV zu infizieren. Aber es gibt eben ein Risiko. Verschwindend gering zwar, aber es ist da.
Neben seiner eigenen Erkrankung befasst sich Adam mit der Geschichte von Zwangsgedanken und –handlungen im speziellen, bringt verschiedenste Fallbeispiele für ihre ungewöhnlichen Auswüchse. Er berichtet über psychische Erkrankungen die ähnlich oder damit verbunden sind und über den Umgang damit im Laufe der letzten Jahrhunderte. Natürlich geht es auch um Pharmakologie und andere Behandlungsmöglichkeiten.
Verständlich aufbereitetes Sachbuch über komplexe Erkrankung
Vor nicht allzu langer Zeit las ich ein ähnliches Buch über Ängste. Nun hat es mich wieder zu einer psychischen Erkrankung gezogen. Angesichts der Tatsache, dass ich „Angst“ zwar interessant, aber furchtbar geschrieben fand, war ich skeptisch was mich bei “Zwanghaft“ erwarten würde. Erfreulicherweise kann ich mich nur positiv äußern.
Hier gibt es so gut wie keine Fußnoten. Und es gibt auch kein Register mit Erläuterungen am Ende des Buches. Weil beides nicht notwendig ist. Das Buch lässt sich also prima durchlesen.
Das Thema ist – gerade wenn es um die körperlichen Ursachen, wie das Zusammenwirken verschiedener Gehirnregionen geht – verständlich aufbereitet. Die meisten Fachbegriffe die auftauchen sind mir schon bekannt. Viele werden ohnehin auch erklärt. Ein anderer Leser muss das Eine oder Andere vielleicht trotzdem nachschlagen. Aber wie gesagt, ich finde das Buch sehr verständlich.
Insbesondere auch die vielen größeren und kleineren Fallgeschichten von anderen Zwangsstörungen machen das Buch interessant. Nicht nur bekannte Namen aus der Vergangenheit werden aufgeführt, sondern zumeist unbekannte Patienten, die teilweise sehr spezielle Zwangsstörungen hatten.
Besonders nahe ging mir das Kapitel über Lobotomien. Eine barbarische Behandlungsmethode, um psychisch Kranke zu heilen, deren Wirkung (um es vorsichtig auszudrücken) zumindest umstritten ist. Vor allem, dass diese Behandlungsmethode in weiter entwickelter Form noch heute praktiziert wird, lässt mich schaudern.
Alles in allem empfehle ich dieses Buch gern weiter. Nicht nur für Betroffene und deren Angehörige, sondern generell als eine interessante und bildende Lektüre.
Mehr Sachbücher:
„Demenz – Was wir darüber wissen, wie wir damit leben“
„Das innere Auge“ von Oliver Sacks
„Angst“ von Scott Stossel
Noch was kurioses:
„2005 steckten Neurowissenschaftler in Kalifornien einen Atlantischen Lachs, den sie beim örtlichen Fischhändler gekauft hatten, in ihr MRT-Gerät. Sie zeigtem dem toten Fisch eine Reihe von Fotos und zeichneten seine Reaktion auf. „Der Lachs“, so berichteten die Wissenschaftler später, „sollte entscheiden, welche Emotion die Person auf dem Foto wohl gehabt haben mochte.“ Das klingt albern, ist aber ein üblicher und notwendiger Schritt, um MRT-Geräte zu kalibrieren und zu überprüfen, ob alles in Ordnung ist, bevor man mit menschlichen Probanden arbeitet. …
Als die Neurowissenschaftler die Scans vom Lachs betrachteten, stellten sie etwas Merkwürdiges fest. Die Ergebnisse schienen zu zeigen, dass der Lachs dachte. Als ihm die Fotos gezeigt wurden, leuchteten Teile seines Gehirns auf.“
(Zitat Seite 168)
Autorenporträt
David Adam, Dr. rer. nat., Jg. 1972, ist Wissenschaftsjournalist und Redakteur bei ‚Nature‘. Vorher hat er lange als Wissenschaftskorrespondent für den ‚Guardian‘ gearbeitet. Er hat Reportagen über die Arktis, die Antarktis, China und den Dschungel des Amazonas geschrieben und wurde von der Association of British Science Writers zum Autor des Jahres nominiert. David Adam lebt mit seiner Familie in London.
Buchinfo
„Zwanghaft. Wenn obsessive Gedanken unseren Alltag bestimmen“ von David Adam, erschienen bei dtv
Taschenbuch: 304 Seiten, € 9,90, ISBN 978-3-423-34879-9
eBook: 304 Seiten, € 7,99, ISBN 978-3-423-42492-9
Quellen
Bild+Autorenporträt: www.dtv.de / Text (außer Autoreninfo): Susanne
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