Im Alter von 97 Jahren blickt der Unternehmer Mordechai de Paauw auf sein bewegtes Leben zurück. Gefangen in einem Körper, der ihm in keinerlei Hinsicht mehr gehorcht, der ihm sogar die Möglichkeit nimmt mit seiner Familie und seinen Pflegerinnen zu kommunizieren, ist er gezwungen sich mit sich selbst und seiner Vergangenheit zu beschäftigen.
Mein Lieblingssatz: „Deshalb sehe ich mit einer Mischung aus Erleichterung und tiefer Traurigkeit den heutigen Zustand meines Geschlechtsteils, dieses schlaffen, willenlosen, blassen Wurmfortsatzes, einer Buchspeicheldrüse nicht unähnlich, der unter einer wabbelnden Bauchfalte hängt und den ganzen Tag tröpfelnd stinkendes Nass absondert, weil außer mir auch dieses Tier die Kontrolle über sich verloren hat.“
Anfang der 20er Jahre übernehmen die Zwillinge Mordechai und Aron de Paauw die Schlacht- und Fleischbetriebe in Oss, Niederlande von ihrem Vater. Während Mordechai ohne größere Schulbildung agiert, aber dafür umso engagierter ist, befasst sich Aron ohne größeren Enthusiasmus mit der Führung des Familienunternehmens.
Mordechai hat große Pläne. Er schließt sich mit dem Wissenschaftler Rafael Levine zusammen. Gemeinsam gründen sie die Firma Pharmacon. Mit Hilfe der Schlacht- und Fleischbetriebe ermöglicht de Paauw seinem neuen Partner Levine zunächst die Erforschung der industriellen Herstellung von Insulin. Die beiden Männer wollen Vorreiter sein und gerade im pharmazeutischen Bereich erfolgreiche Forschungen betreiben. Tatsächlich macht Levine bahnbrechende Entdeckungen, die de Paauw vermarkten kann und die auch die Welt verändern.
Was wie eine wunderbare Zusammenarbeit beginnt, bekommt bald erste Risse. Levine ist zwar erfolgreich, doch die Unsummen, die seine Forschung verschlingt sind de Paauw zunehmend ein Dorn im Auge. Schließlich muss er auf den Gewinn achten und auch auf den Erhalt des Familienunternehmens. Auch die langen Testphasen, die Levine benötigt, bevor ein neues Mittel auf den Markt kommen kann, stoßen bei dem ungeduldigen de Paauw auf Unverständnis.
Er beginnt seine Machtposition als Direktor und größter Arbeitgeber der Umgebung auszunutzen. Er überredet ausgewählte Arbeiterinnen seiner Fabrik die bisher lediglich an Tieren getesteten Medikamente einzunehmen. Damit nicht genug, missbraucht er die zumeist jungen Frauen in seinem Büro auch noch sexuell. Als er – wenn auch aus guter Absicht – auch seinen Bruder Aron als Versuchskaninchen für ein sogenanntes „Seelensekret“ benutzt, endet dies in einer Katastrophe.
Während im Nachbarland Deutschland Hitler seinen grausigen Feldzug gegen minderwertiges Leben führt, droht das inzwischen errichtete Imperium von de Paauw einzustürzen. De Paauw muss nun um seine Ehe, sein Unternehmen und auch um sein Leben fürchten.
Eine gelungene Darstellung
Mit „Die Glücksfabrik“ zeichnet Saskia Goldschmidt ein beeindruckendes Bild eines skrupellosen Unternehmers. Sie lässt de Paauw sogar sympathisch erscheinen, obwohl sein Frauenbild machohafter und abfälliger kaum sein könnte.
Zunächst hat mir die Erzählweise aus Sicht des alten Mannes nicht so recht gefallen, dennoch ist die Darstellung sehr gelungen. Den Aufstieg des Familienunternehmens und die immer größere Verstrickung des Direktors in unlautere Machenschaften, sexuelle Nötigung, Erpressung und Machtmissbrauch ist überaus spannend zu lesen. Der geschichtlich reale Hintergrund sowohl zum Forschungsinstitut als auch zu den Ereignissen in dem Familienunternehmen tut hier sein übriges.
Eine äußerst gekonnte Verbindung von Fakt und Fiktion, zeigt dem Leser eine plausible Version von dem was vorgefallen sein könnte. Das Buch lässt sich trotz des nicht unbedingt bekömmlichen Themas leicht durchlesen. Ich scheue mich zwar immer etwas, bei derart heiklen Schilderungen, von unterhaltsam zu sprechen, aber letztendlich ist es genau das: der Leser wird gut unterhalten, es kommt keine Langeweile auf. Ich kann das Buch also nur empfehlen.
Autorenporträt
Saskia Goldschmidt, geb. 1954 in Amsterdam, studierte an der Kunsthochschule Utrecht; sie ist Schriftstellerin und Schauspielerin; ›Die Glücksfabrik‹ ist ihre vielbeachtete zweite Veröffentlichung nach der Familienbiographie ›Um jeden Preis glücklich‹.
Buchinfo
„Die Glücksfabrik“ von Saskia Goldschmidt, erschienen August 2014 bei dtv premium
Originaltitel: „De hormoonfabriek“, Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke
Taschenbuch: 328 Seiten, € 14,90, ISBN 978-3-423-26024-4
eBook: Format: ePub, 340 Seiten, € 12,99, ISBN 978-3-423-42322-9
Quellen
Bild: www.dtv.de / Text (außer Autorenporträt): Susanne
Interessantes Thema, v.a. die Verbindung von Holocaust und Massentierhaltung hat mich aufhorchen lassen. Es hört sich so an, als sei die Firma ein Spiegelbild von dem, was damals unter Hitler ich Deutschland abgelaufen ist, oder? Gibt es in dem Buch auch Stellungnahmen zur aktuellen Tierschutzdiskussion?
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Hallo almathun,
die Massentierhaltung wird im Buch eigentlich gar nicht thematisiert.
Es geht um die Forschung in Sachen Insulin und Hormonen und damit verbunden die unauthorisierten Versuche an den Mitarbeiterinnen in der Fabrik. Außerdem die sexuellen Grenzüberschreitungen des Firmeninhabers. In Sachen Tierschutz – weder aktuell, noch in der Vergangenheit – wird keine Stellung genommen, weil das auch nicht Thema des Buches ist.
Viele Grüße
Susanne
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