Rührend kümmert Thomas sich um seine an Alzheimer erkrankte Mutter. Als Schriftsteller hat er die Zeit und Möglichkeit sie den ganzen Tag zu betreuen. Schließlich ist er auch immer der Erste, den sie anruft, wenn sie etwas braucht. Dass sie ihn – ausgerechnet ihn! – eines Tages mit den Worten „Wer sind Sie?“ begrüßt ist ein Schock. Sie hat ihn so voll umfänglich vergessen, dass sie lediglich seinen Bruder Robert und seine Schwester Juliette als ihre Kinder benennt. Einen Thomas hat es nie gegeben.
Mein Lieblingssatz: „Denn es ist nicht das Gedächtnis, das Alzheimer mir Tag für Tag entreißt, sondern meine Seele.“
Madeleine ist noch nicht einmal 60 Jahre alt, als bei ihr Alzheimer diagnostiziert wird. Thomas ist das mittlere ihrer drei Kinder. Er ist Schriftsteller und der erste den sie anruft, wenn sie etwas benötigt. So ist er auch dabei, als sie die erschreckende Diagnose gestellt bekommt. Thomas kümmert sich fortan rührend um seine Mutter. Verlassen von seiner Freundin und mitten in einer Schreibblockade, betreut er Madeleine den ganzen Tag. Denn immer öfter ist seine Mutter nicht mehr nur vergesslich, sondern extrem verwirrt, stellt eine Gefahr für sich und andere dar.
Im vierten Jahr nach der Diagnose ist eines Tages plötzlich alles anders. Anstelle der üblichen morgendlichen Begrüßung, fragt seine Mutter ihn „Wer sind Sie?“. Für Thomas bricht eine Welt zusammen. Erst recht als er feststellen muss, dass es für seine Mutter einen zweiten Sohn namens Thomas nie gegeben hat. Sie erzählt lediglich von seinen Geschwistern: dem älteren Robert und der jüngeren Juliette. Dabei sind die doch berufsbedingt viel weniger bei Madeleine als er.
Thomas ist nun nur noch „der Krankenpfleger“. Der irgendwann sogar bei ihr einzieht, um sie rundum die Uhr zu betreuen. Nachdem Juliette bereits eine Ohrfeige von Madeleine bekam, richtet sich die Aggressivität der alten Dame hauptsächlich gegen den jungen Mann, der bei ihr lebt und ständig ihr Scheckheft klaut. Als die Mutter schließlich keines ihrer Kinder mehr erkennt und Juliette feststellt, dass Thomas seiner Mutter die Windeln wechselt, ist der Umzug in eine Pflegeeinrichtung beschlossene Sache.
Thomas soll endlich wieder sein eigenes Leben führen, sich um seine Karriere kümmern. Die Vorgabe seiner Geschwister täglich nur 3 Stunden bei seiner Mutter im Pflegeheim zu verbringen, wird er einhalten. Ausgerechnet dort findet er aber auch für sich eine Perspektive.
Parallel dazu schildert Madeleine das Fortschreiten der Krankheit. Wie sie mit Alzheimer lebt, welche Ängste sie aussteht. Ganz deutlich begleitet der Leser den intellektuellen Verfall, die zunehmende Verwirrung, bis Madeleine schließlich ganz verstummt.
Mein Herz zog sich zusammen
Das Buch hat mich tief bewegt. Alle paar Seiten musste ich heulen, mein Herz zog sich zusammen.
Ich habe es eigentlich nicht so mit französischen Schriftstellern, aber von Cyril Massarotto und seinem „Warum hast du mich vergessen?“ bin ich restlos begeistert.
Das Buch ist aus Sicht von Thomas und Madeleine geschrieben. Die beiden wechseln sich ab. Und obwohl jeweils die Zeit angegeben ist, zu welchem Zeitpunkt nach der Diagnose sie ihre Sicht der Dinge schildern, hätte ich es noch besser gefunden, wenn es chronologisch angeordnet gewesen wäre.
Dennoch bin ich sehr beeindruckt. Trotz des schweren Themas liest sich das Buch rasch durch – was sicher auch an der geringen Seitenzahl liegt. Das schwierige und nur allzu aktuelle Thema wird bei aller Tragik in gut verdaulicher Form präsentiert. Massarotto findet einfache Worte und schafft so ein berührendes und tiefgreifendes Buch.
Unbedingt lesen!
Autorenporträt
Cyril Massarotto, geboren 1975, arbeitet als Kindergärtner in Perpignan in Südfrankreich. Der Allmächtige und ich ist sein erster Roman und erscheint in zehn Ländern.
Buchinfo
„Warum hast du mich vergessen?“ von Cyril Massarotto, erschienen im Juni 2014 bei List, Taschenbuch, 160 (intensive) Seiten, € 8,99, ISBN-13 9783548611785
eBook: 160 Seiten, € 7,99, ISBN-13 9783843707183
Quellen
Bild: www.ullsteinbuchverlage.de / Text (außer Autorenporträt): Susanne