Bereits früh steht für Viktor Staudt fest, dass sich sein Leben radikal ändern würde, wenn er um die 30 ist. Er würde nicht sterben, aber er würde fürchterliche Schmerzen leiden. Wenn man so will eine selbsterfüllende Prophezeiung. Denn letztendlich ist es Viktor Staudt selbst der für die Schmerzen verantwortlich ist: er springt im Alter von 30 Jahren vor einen Zug, um seinem Leben ein Ende zu setzen.
Mein Lieblingssatz: „Als er vor mir steht, schaut er mir direkt ins Gesicht und sagt, ohne zu zögern: „Es ist gut, dass du noch lebst.“
Nach außen ist Viktor Staudt ein ganz gewöhnlicher Mensch. Er ist berufstätig, trifft sich mit Freunden, verreist gern, geht aus. Er hat Verabredungen, sucht eine dauerhafte Beziehung. Dass er aber immer wieder in der Öffentlichkeit unter Angstattacken leidet, wissen die wenigsten. Ein Restaurantbesuch oder die Fahrt mit der Bahn wird oft so zum Schreckgespenst, weil es jederzeit losgehen kann.
Viktor ist unzufrieden mit seinem Leben. Die Angstattacken verwehren ihm ein funktionierendes Sozialleben und erst recht eine feste Beziehung. Schon seit der Teenagerzeit ist die Option Suizid in Viktor Staudts Kopf verhaftet. Eine Option die ihn insofern beruhigt, als sie ihm immer offen steht.
Und dann ist es Realität. Viktor springt am Bahnhof in Amsterdam vor einen durchfahrenden Intercity. Sein Suizidversuch schlägt fehl, er überlebt. Seine Beine sind jedoch nicht mehr zu retten und werden abgetrennt. Monate verbringt er im Krankenhaus und in einer Reha-Klinik. Eine psychologische oder psychiatrische Betreuung ist kaum vorhanden. Nach wie vor grübelt Viktor, wie er seinem Leben ein Ende setzen kann. Jetzt erst recht.
Auch als er in Süddeutschland in einer Reha-Klinik offenbar Fortschritte macht, was den körperlichen Aspekt angeht. Auch hier ist die psychologische Betreuung nicht optimal. Dennoch erkennt die Therapeutin das Problem und kann am Ende seines Klinikaufenthalts eine Diagnose stellen: Borderline-Persönlichkeitsstörung.
Viktor Staudt beginnt ein neues Leben im Rollstuhl. Er bemüht sich um selbstständiges Leben, um einen geregelten Tagesablauf, um Normalität. Täglich kämpft er mit schlimmen Phantomschmerzen. Nimmt starke Medikamente dagegen. Spricht auch dem Alkohol zu.
Es dauert mehrere Jahre, bis er sich von der Medikamentensucht befreit. Und bis er sich eingesteht, dass es ihm noch immer nicht gut geht. Seine neue Hausärztin hat ein offenes Ohr für seine Geschichte und seine Probleme. Die Antidepressiva, die sie Viktor Staudt verschreibt, lassen ihn tatsächlich neuen Lebensmut schöpfen.
Ein ganz wichtiges Buch
Das ist in meinen Augen ein ganz wichtiges Buch. Es spricht über zwei große Tabuthemen: das Leben mit Depressionen und Suizid. Ich wünsche mir, dass ganz viele Menschen es lesen.
Aus persönlichen Gründen hat mich das Buch besonders berührt und beeindruckt. Es hat mir das ein oder andere im Zusammenhang mit Depressionen und Suizid verständlicher gemacht.
Natürlich ist das keine leichte Lektüre, die man mal eben zur Unterhaltung liest. Dennoch habe ich es in einem Rutsch durchgelesen, weil es toll geschrieben ist. Viktor Staudt bedient sich einfacher Worte, macht seine Empfindungen und Handlungen greifbar und verständlich. Das Thema ist fesselnd und äußerst interessant. Staudts langer Weg in Richtung Leben und Lebenswillen geht sehr zu Herzen. Dabei ist er nicht rührselig, sondern klar und deutlich in seinem Ausdruck.
Ich denke schon, dass es sowohl für Menschen mit einem ähnlichen Krankheitsbild und auch deren Angehörige zu besserem Verständnis beiträgt. Dass es Mut macht und zum Nachdenken anregt.
Ich empfehle es gern und mit Nachdruck weiter.
Autorenporträt
Viktor Staudt, 1969 geboren, studierte Jura und arbeitete zehn Jahre für eine Fluggesellschaft. Nach seinem Selbstmordversuch lebte er fast zehn Jahre in Deutschland und der Schweiz, mittlerweile in Italien. Er hält Vorträge und veranstaltet Workshops zum Thema Selbstmordprävention.
Buchinfo
„Die Geschichte meines Selbstmords und wie ich das Leben wiederfand“ von Viktor Staudt, erschienen September 2014 bei Droemer,
Hardcover: 256 Seiten, € 14,99, ISBN: 978-3-426-27645-7
eBook: 256 Seiten, € 12,99, ISBN: 978-3-426-42616-6
Quellen
Bild: www.droemer-knaur.de / Text (außer Autorenporträt): Susanne
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